Dienstag, 20. November 2012

Requiem-Vertonungen: Hector Berlioz

Man liest es immer wieder: Zu den drei großen (und beliebtesten) Requiem-Vertonungen gehört nach allgemeiner Auffassung neben Mozarts Requiem (1791) und dem von Giuseppe Verdi (1874) auch die 1837 entstandene Grande messe des morts (op. 5) von Hector Berlioz (1803-69).

Ich muss gestehen: So ganz nachvollziehen kann ich diese Einschätzung nicht – irgendwie werde ich mit diesem Requiem (im Gegensatz zu den Vertonungen von Mozart, Verdi oder auch Suppé) einfach nicht warm! Die Musik und die dahinterstehende Konzeption erschließt sich mir einfach nicht in dem Maße, wie es bei vielen anderen größeren und kleineren Requiem-Vertonungen der Fall ist. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich bislang leider keine Gelegenheit hatte, mir das Berlioz-Requiem im Rahmen gründlicher Probenarbeit in Vorbereitung auf ein Konzert zu erarbeiten – eine derart intensive Beschäftigung mit einer Komposition lässt einen später viele Dinge mit ganz anderen Augen sehen bzw. mit viel offeneren Ohren hören, diese Erfahrung habe ich bereits mehr als einmal machen können!

Interessehalber habe ich mal in den Aufführungsstatistiken des VDKC (Verband deutscher Konzertchöre – jawohl, auch so etwas gibt es!) nachgeschlagen: In der Tabelle der 50 meistaufgeführten Chorwerke der in diesem Verband organisierten Chöre (im Zeitraum 1995-2004) steht das Mozart-Requiem auf Platz 6, das Verdi-Requiem auf Platz 11, während Berlioz‘ Totenmesse hier gar nicht auftaucht.
Während das Mozart-Requiem im Zeitraum von 1980 bis 2004 in diesen Statistiken mit 374 Aufführungen und das Verdi-Requiem mit immerhin 268 Konzerten vermerkt ist, wurde das Berlioz-Requiem im selben Zeitraum gerade einmal 26 mal aufgeführt.
So gesehen verwundert es dann schon, dass man das Berlioz-Requiem den beiden anderen, mit weitem Abstand häufiger aufgeführten und mit weitaus populäreren Melodien bestückten Totenmessen von Mozart und Verdi gleichstellt – woran könnte das liegen?

Ein Grund für die doch recht selten zu erlebende Aufführung dieser zweifellos großdimensionierten Missa pro defunctis (die Aufführungsdauer beträgt ca. 80 Minuten) dürfte sicherlich in dem gewaltigen, für Berlioz allerdings nicht ganz untypischen personellen und orchestralen Aufwand liegen, der hierfür gemäß den Vorstellungen des Komponisten erforderlich ist:
Das Orchester ist mit 4 Flöten, 2 Oboen, 2 Englischhörnern, 4 Klarinetten, 8 Fagotten, 12 Hörnern, 8 Paar Pauken (bedient von 10 Paukern!), 2 großen Trommeln, 4 Tamtams (Gongs), 10 Paar Becken, 50 Violinen, 20 Bratschen, 20 Celli und 18 Kontrabässen zu besetzen.
Hinzu kommen vier getrennt von diesem Klangkörper zu positionierende Blechbläserensembles (Nr. 1 mit 4 Cornets à pistons [kleines Ventilhorn], 4 Posaunen, 2 Tubas; Nr. 2 und 3 mit je 4 Trompeten und 4 Posaunen; Nr. 4 mit 4 Trompeten, 4 Posaunen und 4 Ophikleiden [Blechblasinstrument in Basslage]).
Dazu kommt neben einem Tenorsolisten dann noch der Chor, nach traditioneller französischer Manier nur mit Sopran, Tenor und Bass, also ohne Altstimmen besetzt (warum auch immer), veranschlagt werden hier 80 Soprane, 60 Tenöre und 70 Bässe.
Und wem das alles noch nicht genug ist, dem gibt der Komponist dann noch folgenden besetzungstechnischen Rat mit auf den Weg:
Diese Zahlenangaben sind nur relativ; wenn es die Räumlichkeiten gestatten, kann man den Chor verdoppeln oder verdreifachen und im gleichen Verhältnis die Orchesterbesetzung vergrößern. Sofern eine außergewöhnlich große Anzahl Stimmen – z. B. 700 bis 800 – zur Verfügung steht, darf der Chor als Ganzes nur im Dies irae, Tuba mirum und Lacrimosa eingesetzt werden. Die übrigen Teile sollten nur von 400 Stimmen ausgeführt werden.

(Meine perönliche Anmerkung zu dieser letzten Vorgabe des Komponisten: Es muss ein wenig komisch wirken, wenn gut die Hälfte des Chores quasi "däumchendrehend" während der übrigen Sätze nichtstuend auf der Bühne rumstehen muss...)

Man fragt sich natürlich, wie es allein zur Idee solch gigantischer Aufführungen kommen konnte – ganz abgesehen davon, wie so etwas wohl klingen mag, wenn mehr als 1.000 Ausführende daran beteiligt sind und das Ganze zwangsläufig schwer kontrollierbar und dann wohl auch etwas schwerfällig und damit unpräzise werden dürfte.

Bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten die Engländer nach dem Tod von Georg Friedrich Händel (1759) im Rahmen der Pflege des Erbes seiner englischsprachigen Oratorien damit begonnen, die Aufführungen mit immer größerem personellen Aufwand zu betreiben. Und mit dem nicht nur personell sondern auch zeitlich jeden bisher bekannten Rahmen einer „herkömmlichen“ Sinfonie sprengenden Umfang seiner 1824 uraufgeführten 9. Sinfonie (mit der „Ode an die Freude“ im Schlusssatz) hatte auch Beethoven einen weiteren Markstein gesetzt – offenbar eine Herausforderung an ein „Höher-Schneller-Weiter“, der sich im weiteren 19. Jahrhundert bis hinein ins 20. Jahrhundert nicht wenige Komponisten stellten (man denke an Richard Strauss' sinfonische Dichtungen bis hin zu Gustav Mahlers 1910 uraufgeführter Sinfonie der Tausend oder den 1913 uraufgeführten Gurre-Liedern von Arnold Schönberg) und die damit durchaus auch dem Zeitgeist dieser Epoche mit ihrem uneingeschränkten Fortschrittsglauben entsprachen.

Vielleicht ist auch das schlichte Fehlen von Möglichkeiten der (elektronischen) Klangverstärkung im 19. Jahrhundert ein Faktor für die häufig immer größer werdende Anzahl der vorgesehenen Ausführenden – wer entsprechend Eindruck schindenden „Sound“ wollte, musste eben gleich mehrere Hundert Musiker vorschreiben, andere Möglichkeiten gab es eben noch nicht!

Berlioz kann man jedenfalls in diesem Punkt als einen der Vorreiter dieser immer größere Besetzungen beanspruchenden Aufführungspraxis bezeichnen.
Die Grande messe des morts (so der Originaltitel) entstand 1837 eigentlich als offizielles Auftragswerk anlässlich des Gedenkens an die Opfer der Juli-Revolution von 1830, die für den 28. Juli geplante Aufführung kam dann jedoch aus politischen Gründen nicht zustande, so dass die Totenmesse dann erst am 5. Dezember 1837 zur Ehrung des im Algerienkrieg gefallenen Generals Damrémont im Pariser Invalidendom uraufgeführt wurde – immerhin also in einem monumentalen Gebäude, für das man sich die oben erwähnte Groß-Besetzung von Chor und Orchester dann doch ganz gut vorstellen kann!

Das Requiem muss jedenfalls einen großen Eindruck bei den Zuhörern hinterlassen haben und gehört somit zu den nicht gerade zahlreichen Erfolgen des leider häufig etwas glücklosen Visionärs Hector Berlioz, der – so sehe ich das jedenfalls - seinem Publikum einfach oft um mehrere Jahre (oder gar Jahrzehnte) voraus war!

Um ein Haar hätte es während der Uraufführung sogar eine schwerwiegende Panne gegeben, als der Dirigent Francois-Antoine Habeneck kurz vor der entscheidenden Stelle zu Beginn des Tuba mirum (wo es einen Tempowechsel gibt und die 4 im Raum verteilten Zusatzorchester erstmals zum Einsatz kommen) seinen Einsatz verpasste, weil er damit beschäftigt war, eine Prise Schnupftabak zu sich zu nehmen (!), wie Berlioz berichtet. Glücklicherweise saß er direkt neben dem Dirigenten und sprang auf, als er bemerkte, was da vor sich ging und konnte das neue Tempo durch entsprechende Gestik gerade noch rechtzeitig angeben, so dass letztlich noch alles gut ging. Ob es sich bei dieser aus heutiger Sicht geradezu unglaublich erscheinenden Nachlässigkeit um reine Schusseligkeit oder Boshaftigkeit eines Berlioz-Gegners handelte (von denen es wohl einige gab, da dieser nun wirklich kein unumstrittener Künstler war!), lässt sich nicht mehr eindeutig klären. Bezeichnend ist jedenfalls, dass sich Berlioz weniger darüber aufzuregen schien, dass Habeneck überhaupt während des Dirigierens Schnupftabak zu sich nahm, sondern, dass er es ausgerechnet an dieser Stelle tat!

Der oben erwähnte, nur mit Sopran, Tenor und Bass zu besetzende Chor soll – das habe ich an mehreren Stellen gefunden – französischer Chortradition entsprechen (was das allerdings genau bedeuten soll, ließ sich dann aber leider nicht genau ermitteln…).
Gab es in Frankreich seinerzeit keine Altistinnen oder was soll dieses merkwürdige, ja geradezu diskriminierende Übergehen unserer tiefsingenden Sangesschwestern?
Dass gerade im 19. Jahrhundert die singenden Herren in vielen Chören in der Mehrzahl waren, lässt sich allein schon an zahlreichen Chorwerken ablesen, in denen die Männerstimmen deutlich mehr gefordert werden als die der Damen – das sind natürlich besetzungstechnische Zustände, die aus heutiger Sicht geradezu paradiesisch anmuten und moderne Chorleiter (und Chorleiterinnen natürlich) jedoch immer wieder erneut vor schwere Probleme stellen, da in heutigen Chören leider die Herrenstimmen chronisch unterbesetzt sind und man in der Regel einen deutlichen Frauenstimmenüberhang hat!
Und dann wird man mit einem Werk wie dem Berlioz-Requiem konfrontiert, in dem man strenggenommen sogar noch auf die Altistinnen verzichten soll! Das stellt so manchen Chor wohl vor schier unlösbare Probleme – gut, dass sich für ein großdimensioniertes Konzertprojekt wie dieses in der Regel eh zwei bis drei mittlere bis große Chöre zusammentun sollten, um es überhaupt realisieren zu können (wobei dadurch im so entstehenden Gesamtverhältnis die Herrenstimmen in der Regel weiterhin in der Unterzahl bleiben dürften…)
In der Regel löst man das Problem mit den „vernachlässigten“ Altistinnen dann dahingehend, dass diese den auch im Berlioz-Requiem häufig vorhandenen Part des 2. Soprans übernehmen, dessen Töne in der Regel etwas tiefer liegen als die des 1. Soprans (aber wer übernimmt den Part der mindestens genauso häufig geteilten Tenöre und Bässe, diese raren Exemplare wachsen ja leider nicht auf den Bäumen…?!)
Bezeichnenderweise schafft es selbst Berlioz nicht, diese merkwürdige „Tradition“ konsequent durchzuhalten – im Sanctus ist dann plötzlich und überraschend eine eigene Altstimme in der Partitur vorgesehen (die in der oben erwähnten Besetzungsliste ja gar nicht auftaucht, was ein eindeutiges Zeichen dafür ist, dass sich hinter den 2. Sopranen wohl auch schon zu Berlioz‘ Zeiten bereits die Altistinnen „versteckt“ hielten…). Jedenfalls fragt man sich schon, warum der Komponist dann nicht gleich so konsequent war und von vornherein eine eigene Altstimme notiert hat? (Künstler!!!)

Seine Grande messe des morts unterteilt Berlioz in 10 Sätze:

-Introitus: Requiem und Kyrie eleison
-Sequenz: Dies irae und Tuba mirum
--Quid sum miser
--Rex tremendae
--Quaerens me
--Lacrimosa
-Offertorium: Domine Jesu Christe
--Hostias
-Sanctus
-Agnus Dei (und Communio)

Allein 5 Sätze veranschlagt Berlioz für seine Vertonung der Sequenz – hier liegt also eindeutig der Schwerpunkt dieser Requiem-Komposition.

Die oben aufgelistete Orchesterbesetzung und hier vor allem die 4 zusätzlichen Bläserensembles und das umfangreiche Schlagwerk setzt Berlioz – leider, muss man fast sagen – ausgesprochen sparsam ein:
Lediglich im Dies irae/ Tuba mirum, im Rex tremendae und im Lacrimosa wird diese aufwendige (und live sicher enorm beeindruckende) „Raumklang-Aufstellung“ vorgeschrieben. Die große Trommel und zumindest ein Beckenpaar dürfen dann immerhin im Sanctus nochmal ganz dezent und leise ein paar Töne von sich geben, das war’s dann aber auch schon!

Ehrlich gesagt kann ich verstehen, dass man diesen besetzungstechnischen Aufwand vielleicht auch unter dem Aspekt scheut, dass der ganze Zinnober lediglich für ein paar wenige Minuten einer im Ganzen immerhin fast anderthalbstündigen Komposition veranstaltet werden muss!

Verdi hat in seinem Requiem (das zwar auch einen relativ großen Orchesterapparat vorsieht, aber doch bei Weitem keinen derart aufwendigen) meiner Meinung nach das Ganze praktikabler gelöst: Die wilden (und beim Publikum ausgesprochen populären) Orchesterausbrüche, die bei ihm erstmals zu Beginn des Dies irae über die Zuhörer hereinbrechen, kommen im Verlauf der Komposition mehrfach vor, zuletzt im letzten Satz, dem Libera me, dessen Text sogar das „Dies irae“ nochmal wörtlich zitiert – ich finde diese Lösung auch von der Dramaturgie her weitaus besser gelöst als im Fall von Berlioz‘ Requiem, wo man weiß, dass nach dem Ende des Lacrimosa die Mitglieder der 4 Fernorchester (und die meisten der zahlreichen Schlagzeuger) bereits Feierabend haben, was doch eigentlich schade ist, wo man die Musiker eh schon mal zur Stelle hat!

Berlioz hätte vielleicht noch wie Verdi (oder Suppé) ein Libera me als letzten Satz seiner Totenmesse hinzufügen sollen, das hätte ihm Gelegenheit gegeben, hier noch einmal alle orchestralen Register zu ziehen. So endet das Requiem jetzt ruhig und versöhnlich mit dem Agnus Dei, bzw. der angedeuteten Communio, die sich allerdings als eine bis auf wenige Schlusstakte wörtliche Wiederholung des 2. Teils des ersten Satzes entpuppt (ab den Worten „Te decet hymnus“, die unverändert übernommen werden, was liturgisch gesehen an dieser Stelle so nicht ganz korrekt ist!), was dem Riesenwerk dadurch zwar eine musikalische Geschlossenheit verleiht, weil der Bogen zum Anfang geschlagen wird, zumindest mich als Zuhörer aber doch etwas enttäuscht, weil am Ende so gar nix nennenswert Neues mehr kommt – aber das ist eben die künstlerische Freiheit, für die sich Berlioz genauso bewusst entschieden hat, wie für den oben erwähnten, meiner Meinung viel zu knappen Einsatz der von ihm vorgeschriebenen Schlagzeuger- und Blechbläsermassen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Effekte, wenn die im Raum verteilten Fernorchester mit Beginn des Tuba mirum loslegen, ziemlich überwältigend sein müssen und sicher auch keinen heutigen Zuhörer unbeeindruckt lassen! Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, mir dieses Requiem einmal live im Konzert anzuhören – und die CD ist an diesen Stellen eindeutig überfordert: Sie kann vielleicht noch die losbrechenden orchestralen Gewalten annähernd wiedergeben, aber gerade die so wichtigen räumlichen Effekte bleiben hier natürlich zwangsläufig auf der Strecke…

Im ersten Satz ahnt man noch nichts von diesem Spektakel, denn Berlioz beginnt sein Requiem ganz verhalten und mit eher demütiger Geste. Das recht knapp gehaltene Kyrie, das sich unmittelbar an das einleitende Requiem aeternam anschließt, wirkt ebenfalls verzagt und bittend und steht in ziemlichem Gegensatz zu den fast trotzig-aufbegehrend wirkenden großen Kyrie-Fugen, wie man sie beispielsweise bei Mozart und Suppé an dieser Stelle antrifft!

Und auch den Beginn der Sequenz mit dem Dies irae lässt Berlioz ganz unerwartet sehr ruhig und im Pianissimo angehen (was für ein Gegensatz beispielsweise zu Verdi, bei dem bereits an dieser Stelle die ganze Wucht des Jüngsten Gerichts loszubrechen scheint!) und steigert im weiteren Satzverlauf geradezu genussvoll die Spannung immer mehr, bis es dann endlich mit Beginn des Tuba mirum auch bei ihm richtig „zur Sache geht“ – die Stelle, auf die das Publikum bereits seit Beginn gewartet hat (und die wie erwähnt in der Uraufführung um ein Haar danebengegangen wäre)!
Man muss hier die Bässe bewundern, die zunächst ganz allein gegen diese Wucht des Orchesters ansingen müssen (was dazu verleiten dürfte, aus dem „Singen“ ein „Schreien“ oder gar „Brüllen“ werden zu lassen, was natürlich unbedingt zu vermeiden ist!)

Im Dies irae ist mir übrigens eine Stelle aufgefallen, an der die Tenöre unablässig in einem stets gleichbleibenden motorischen Rhythmus den Text deklamieren, die mich spontan an das Dies irae im Requiem von Karl Jenkins erinnert hat. Ob Mr. Jenkins sich am Ende hier die Inspiration für seine eigene Komposition dieses Satzes geholt hat?

Berlioz hat – das muss man ihm lassen – die einzelnen Sätze seines Requiem wirklich sehr abwechslungsreich gestaltet und eine große stilistische Bandbreite aufgeboten, was (wenn man das denn unbedingt negativ sehen möchte) dem ganzen Werk allerdings auch einen etwas uneinheitlichen Charakter verleiht.

So wechseln sich die groß besetzten Sätze Dies irae, Rex tremendae und Lacrimosa mit den eher kammermusikalisch besetzten, auch vom Umfang her deutlich knapper dimensionierten Sätzen Quid sum miser (bis auf wenige Takte nur von den Tenören bestritten) und Quaerens me (ein ziemlich kniffliger, bis zu sechsstimmiger a-cappella-Chorsatz) ab.

Am meisten überzeugt mich persönlich das wirklich grandios gesteigerte Lacrimosa mit seinen zu Beginn so charakteristisch „zerklüfteten“ Begleitfiguren und den leidenschaftlich bewegten Gesangslinien (an dieser Stelle erklingt für mich das erste Motiv, das beim Hören auch mal „hängenbleibt“, während bis hierhin eher etwas sperrigere und leider nicht besonders eingängige Themen erklungen sind).
In diesem Lacrimosa kommt abschließend nochmal der gesamte orchestrale Wahnsinnsapparat dieses Requiems wirkungsvoll zum Einsatz und eigentlich würde dieser Satz auch ein würdiges Finale der gesamten Komposition abgeben, aber wir haben es hier immerhin mit einer geistlichen Komposition zu tun und nicht mit einer Oper oder Sinfonie, so dass hier deart profane dramaturgische Gesichtspunkte doch eher eine untergeordnete Rolle spielen sollten (auch wenn sie – wie schon erwähnt – manch anderem Requiem-Komponisten meiner Meinung nach doch etwas besser gelungen sind als Berlioz, aber das ist halt Ansichtssache)!

Faszinierend finde ich auch das Offertorium, das mit dem Domine Jesu Christe beginnt: Auf die Idee, den Chor während fast des gesamten, nicht gerade kurzen Satzes lediglich ein aus den Tönen A-B-A bestehendes Motiv singen zu lassen, dürfte zu Berlioz‘ Zeit außer diesem experimentierfreudigen Visionär wohl auch kein anderer Komponist gekommen sein!
Diese Idee mutet eher wie ein aus dem 20. Jahrhundert stammender kompositorischer Einfall an, verfehlt aber seinen irgendwie fast schon hypnotische Wirkungen erzielenden Effekt nicht: Das diesen monoton und litaneiartig anmutenden Gesang begleitende Orchester entfaltet währenddessen eine reiche Palette an Klangfarben und musikalischen Ideen, so dass man hier fast schon davon sprechen könnte, dass der Chor das Orchester begleitet und nicht umgekehrt. Und wenn sich am Ende des Satzes beim Wort „Promisisti“ dann plötzlich und unerwartet der Chor im Pianissimo wie ein Fächer zur Sechsstimmigkeit auseinanderfaltet, hat das nach der vorangegangenen minutenlangen Ein- bzw. Zweitönigkeit natürlich eine fantastische Wirkung!

An Sätzen wie diesem zeigt sich die unglaubliche Modernität der Musik von Hector Berlioz, der eben nicht nur ein begnadeter Maler mit den Klangfarben des Orchesters war, sondern auch für seine Zeit ganz ungewöhnliche kompositorische Ideen hatte!

Unkonventionell wie Berlioz war, überrascht es auch nicht, wenn man feststellt, dass er an mehreren Stellen des Requiem-Textes (hier vor allem in der Sequenz und dem Offertorium) in eigener Regie Verse einfach weggelassen, bzw. umplatziert hat, wie es ihm offenbar gerade für seine kompositorische Absicht opportun erschien.
Außer vielleicht Franz Schubert in seinen Messkompositionen fällt mir sonst kein Komponist ein, der es im frühen 19. Jahrhundert (geschweige denn früher) gewagt hätte, eigenmächtig Veränderungen an liturgischen Texten vorzunehmen!

Im vorletzten Satz des Requiem, dem Sanctus, kommt dann zum ersten und einzigen Male in der gesamten Komposition ein Solist zum Vortrag – ein Solotenor singt, begleitet vom dreistimmigen Damenchor, den Sanctus-Text. Da kann man sich natürlich fragen, warum denn nun kurz vor Schluss nun doch plötzlich noch ein Solist zum Einsatz kommt (und dann auch nur einer), nachdem der Chor den Rest des Requiem ja auch schon allein bestritten hat? Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch der Hinweis, den Berlioz in seine Partitur reingeschrieben hat: Sollte nämlich kein Solotenor für diesen Satz zur Verfügung stehen, dann kann er ersatzweise auch von 10 Chor-Tenören (quasi als „Solo-Dezimett“, oder wie man so etwas nennen müsste) ausgeführt werden. Also das würde ich ja gern mal hören, denn dieser Part für den Solotenor ist schon recht anspruchsvoll und sollte natürlich auch in einer möglichst schönen, lyrischen und unangestrengt wirkenden Linie vorgetragen werden!

Es stellt sich mir auch die Frage, warum Berlioz ausgerechnet das Sanctus für diesen einzigen Einsatz einer Solostimme in seinem Requiem gewählt hat, einen Satz, der für gewöhnlich eher einen kurzen, hymnischen Charakter besitzt und somit in der Regel immer dem Chor überlassen wird (das folgende Benedictus ist dafür dann in der Regel nochmal ein lyrischer Glanzpunkt, der meist von Solostimmen ausgeführt wird – dieser Teil wurde allerdings von Berlioz gar nicht erst vertont!).

Geradezu klassisch (und für Berlioz‘ Verhältnisse unerwartet traditionell) mutet dann die auf diesen Solovortrag unmittelbar folgende ausgewachsene, nach allen Regeln der Kunst ausgeführte dreistimmige Chorfuge auf die Worte “Hosanna in excelsis“ an – wie man an dieser Stelle merkt, beherrschte der „revolutionäre Romantiker“ sein kompositorisches Handwerk souverän!

Eigenwillig wird das Ganze allerdings direkt nach Beendigung der Hosanna-Fuge, denn während nach dem Sanctus nun eigentlich das Benedictus folgen müsste, wird der komplette Satz nahezu unverändert wiederholt – der Solotenor hebt nun also erneut mit seinem sehr ausdrucksvollen Sanctus-Gesang an, diesmal jedoch noch zusätzlich ganz leise von gelegentlichen dumpfen Schlägen auf die große Trommel und einigen (sicher jedoch nicht allen) Becken begleitet, was einen recht merkwürdigen, so bislang auch noch nicht gehörten Effekt mit sich bringt, von dem man nicht recht weiß, was man davon halten soll…
Weiter passiert aber nichts, es wird also kein neuerlicher dramatischer Höhepunkt vorbereitet, sondern nun auch noch einmal die komplette Hosanna-Fuge wiederholt, was zumindest wieder der Tradition entspricht. Alles in allem ein auf seine spezielle Weise erneut ungewöhnlicher Satz (trotz der unüberhörbaren Anklänge an „Althergebrachtes“), der einige Rätsel aufgibt.

Ich hatte ja schon von der großen Vielfalt gesprochen, die Berlioz in puncto Besetzung, Instrumentation und eben auch den verwendeten Stilarten in den zehn Sätzen seines Requiem aufzeigt. Und so stellt die Hosanna-Fuge neben Passagen in dieser Totenmesse, die beispielweise eher an gregorianische Mönchgesänge erinnern oder ein wenig an Palestrinas Chorwerke, eben einen stilistischen Gruß an das 18. Jahrhundert dar!

Vom mich persönlich etwas enttäuschenden letzten Satz, dem Agnus Dei mit der angedeuteten Communio als Abschluss hatte ich ja schon geschrieben.

So bleibt bei mir von diesem Riesenwerk ein etwas zwiespältiger Eindruck zurück – es bietet dem Zuhörer wie erwähnt eine große stilistische und besetzungstechnische Vielfalt an, enthält einige (leider im Verhältnis zum Gesamtwerk viel zu wenige) überwältigende Raumklangexperimente, eine für seine Zeit von aktuellen musikalischen „Trends“ (die in der Regel dann hauptsächlich aus dem Bereich der Oper stammen müssten) erstaunlich unabhängige Musik, leider recht wenige packende Melodien (außer vielleicht im Lacrimosa und Sanctus) und mit dem Fehlen der Chor-Altstimmen bei gleichzeitiger größerer Gewichtung der Männerstimmen eine zumindest für heutige Zeit knifflige Besetzungsproblematik und damit in jedem Fall eine große (und lohnende) Herausforderung für einen oder besser gleich mindestens zwei große Konzertchöre.
Wie eingangs erwähnt: Mir fehlt bisher noch das persönliche „Aha“-Erlebnis bei diesem Werk – es gibt in der Konzertliteratur einige Requiem-Vertonungen, die mir weit besser gefallen!

Nichtsdestotrotz erfreut sich das Berlioz-Requiem auf dem Tonträgermarkt einer recht großen Beliebtheit – neben den beiden anderen „Tophit“-Totenmessen von Mozart und Verdi dürfte es sich zumindest hier tatsächlich um die Nr. 3 im Requiem-Olymp handeln, so wie es in den Konzertführern immer wieder nachzulesen ist! Andere Totenmessen liegen mit Abstand nicht in so zahlreichen Einspielungen vor, wie diese drei!

Ich habe mich aktuell etwas intensiver mit einer offenbar 1979 erstmals erschienenen Aufnahme mit dem Cleveland Orchester und Chor unter der Leitung von Lorin Maazel und der 1993 eingespielten Interpretation des Boston Symphony Orchestra mit dem Tanglewood Festival Chorus unter der Leitung von Seiji Ozawa beschäftigt.

Mir gefällt der irgendwie plastischere, direktere Klang der Ozawa-Aufnahme deutlich besser als der etwas unschärfere der älteren Maazel-Einspielung, zumal dort auch die Chor-Soprane gelegentlich etwas unpräzise Einsätze abliefern. Die im Vergleich zu Maazel flottere, zupackende Interpretation Ozawas sagt mir einfach mehr zu – so benötigt Ozawa beispielsweise für das ruhige Offertorium (Domine Jesu Christe) ganze 3 Minuten (!) weniger als Maazel, wobei Ozawa allerdings auch eine – meines Wissens 1851 entstandene - Fassung dieses Satzes aufführt, die um einige Takte gekürzt wurde, was dem Ganzen aber keineswegs schadet! Dafür gefällt mir aber das Lacrimosa in der Maazel-Aufnahme auch recht gut; vielleicht, weil es wiederum 2 Minuten länger dauert, als in der flinkeren Ozawa-Interpretation? Man weiß es nicht… ;-)

Aufgrund der wirklich überreich vorhandenen verschiedenen Aufnahmen dieses Werks lohnt sich für jede(n) Interessierte(n) auf jeden Fall ein ausführlicher Vergleich, bei dem man für sich selbst bestimmt viel Schönes und überzeugend Umgesetztes finden kann. Gerade solche „Hör-Safaris“ finde ich eigentlich immer ganz besonders spannend!

2 Kommentare:

  1. Sehr geehrter Autor dieses wirklich gelungen Artikels, die Berliner Singakademie gemeinsam mit dem Philharmonischen Chor Berlin führen dieses grandiose Werk am Karfreitag auf. Und Plätze im Bass/Tenor dürften sich zum Mitsingen möglicherweise auch noch finden. ;) http://berliner-singakademie.de/konzertkalender/
    Mit freundlichen Grüßen

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  2. Sehr geehrter Autor,

    Ihre Mühe verdient Respekt, denn Sie sind ehrlich und gehen unverstellt zu Werke, sprechen ganz für sich selbst. Das erfordert Mut, gerade im Angesicht der Komposition, um die es geht.

    Sie sprechen beim besetzungstechnischen Aufwand des Requiems von "... Zinnober und Wahnsinnsapparat für lediglich ein paar wenige Minuten einer im Ganzen immerhin fast anderthalbstündigen Komposition." Ich halte diese Formulierung für sehr gewagt und kann sie nicht teilen. Allein die Vor- und Entstehungsgeschichte von Berlioz‘ Requiem sind ein Kapitel für sich. Das sich hierbei Ereignete blieb Verdi zu allem Glück erspart, abgesehen davon, dass beide Künstlerpersönlichkeiten auch mental und responsiv nicht Vergleichbar sind.

    Berlioz‘ Requiem steht mit einigen anderen seiner Werke ohne Zweifel in gedanklicher Beziehung zu Monumentalwerken nationaler Sujets, wie auch Hymnen und Festmusiken jener Zeit, deren Spuren sich noch in seinem Te Deum finden und auf die musikalische Diktion der Französischen Revolution zurückgehen. Zudem war sein Requiem nicht als durchgehende Kirchenmusik gedacht, die mit dem Selbstverständnis des Kulturbetriebs der Gegenwart bedient wird. Gerade weil Berlioz in Frankreich und besonders in Paris die schlimmsten Widerwärtigkeiten und Kränkungen als Künstler erfuhr, war sein dramaturgisches Denken anders angelegt – eben vollkommen unangepasst. Das gilt es aus heutiger Sicht zu würdigen und nicht - selbst ungewollt - abzufälschen.

    Ein Umstand vieler Einspielungen des Werks: Die vier Blechbläsergruppen in den austarierten Emporen des Kirchschiffs (oder reinen Studioproduktionen) werden in 99% aller Einspielungen viel zu schnell dirigiert. Es gibt eine (mir bekannte) Aufnahme, die sich genau an die Partiturvorschrift von Berlioz hält; es ist die mit Jean Fournet und dem Orchestre et Chorale Emile Passani vom September 1943 in Saint Eustache, Paris. Ich verfüge über die Einspielung des Labels Malibran, gekoppelt mit La Damnaton de Faust. Ein rein über die Partitur hinausugehendes erschütterndes Dokument. Nichts für Berlioz-Romantiker oder HiFi-Freaks. Aber für Berlioz!

    Mit freundlichen Grüßen
    Rolf Blatzheim

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